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Premiere Shockheaded Peter (19.09.2003)
von Sonja Schütt

Premiere Shockheaded Peter

Zu aller erst einmal eine kurze Einleitung, die die Entstehung vom "Struwwelpeter" ein wenig veranschaulichen und verständlicher machen soll:

Da der Frankfurter Arzt und Psychiater Dr. Heinrich Hoffmann (1809 - 1894) kein passendes Kinderbuch für seinen dreijährigen Sohn zu Weihnachten fand, illustrierte und schrieb er (zunächst unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb) kurz entschlossen selbst ein Buch - den "Struwwelpeter" (Originaltitel: "Der ultimative Struwwelpeter" / "The Ultimate Shockheaded Peter").

Die erste Ausgabe dieses Buches erschien im Jahre 1845, die englische Übersetzung folgte drei Jahre später. Zu dieser Zeit waren Langhaarige, Daumenlutscher, Hyperaktive und kleine pyromanische Mädchen anscheinend schon eine grausige Sache, vor denen Hoffmann mit seinen lustigen und gleichzeitig bösen Versen warnen wollte. Das Buch sollte zwar kindgerechte Literatur sein, aber auch als eine Art Erziehungsbuch dienen.

Seit der Buchveröffentlichung haben die Schauergeschichten vom Suppenkasper & Co. Kultstatus erreicht und sind in die Weltliteratur eingegangen. Generationen von Leserinnen und Leser sind bzw. waren fasziniert, ihnen wurde aber wohl auch gleichermaßen das Fürchten gelehrt und da der "Struwwelpeter" zu so einem Welterfolg geworden ist, ist das Buch auch heute noch in Druck.

Hierzu ein paar Pressestimmen:

The Guardian : Triumphant shockingly funny... magnificent... very, very nasty, but oh so nice.
Tagesspiegel : Schwache Gemüter sollten diesen Text nicht lesen...
Daily Telegraph : A macabre and perverse thrill of pleasure.
HAZ : Heinrich Hoffmann... völlig durchgeknallt...
Evening Standard : Wonderfully horrid... darkly funny, ravishingly inventive.
Neue Züricher : Für emotional ausgeplünderte Eltern, ein Blutrausch, der mordsmäßig gut tut im Herzen.
Sunday Tel. : Highly original, deeply sinister and utterly beguiling.
Stern : Eine Trash-Therapie für genervte Eltern und widerspenstige Kids.

Etwa 150 Jahre nach der Veröffentlichung des Klassikers kreierte der britische Falsetto-Sänger Martyn Jacques eine "Junk Opera" und brachte den "Shockheaded Peter" mit seiner Band - die Londoner Kultband "The Tiger Lillies" - sowie den beiden Theatermachern Phelim McDermott und Julian Crouch auf die Bühne. Im März 1998 wurde die "Junk Opera" in Leeds / Großbritannien uraufgeführt und sie tourten mit dem Welterfolg u.a. durch Australien, die USA und Russland. Die Studio-Cast-CD erschien im Jahre 1999.

Die meisten Geschichten werden in schaurig schönen Balladen erzählt. Jedoch kann man sie, musikalisch gesehen, in keine bestimmte Schublade stecken, da die Musik - laut dem Theater-Magazin "Terzett" - an Blues (z.B. von Tom Waits), teilweise aber auch an trunkene Zirkuskapellen erinnert - so auch in St. Gallen:

Nachdem es für meine beste Freundin Sandra und mich ein paar Problemchen zu lösen galt, was Reisebüro, Ticketbuchung, usw. betraf, ging es dann doch relativ problemlos am Freitag, d. 19. September gegen 05.30 Uhr von zuhause aus los und dann mit dem Zug in Richtung Schweiz. Nach ca. neun Stunden Zugfahrt und mehrmaligem Umsteigen waren wir dann so gegen 15.20 Uhr in St. Gallen. Dort angekommen machten wir uns natürlich sofort auf die Suche nach unserem Hotel, welches zum Glück recht zentral in der Stadtmitte gelegen ist und in etwa sowohl vom Bahnhof als auch vom Theater nur 10 Gehminuten entfernt. Als wir uns dann ein wenig "akklimatisiert" hatten, gingen wir erst in die Innenstadt, um eine Kleinigkeit zu essen und dann hieß es auch schon: Auf zum Stadttheater - zur Premiere der Junk-Oper "Shockheaded Peter" und wir waren schon mächtig gespannt auf die Abwechslung - nach der ganzen "wunderbaren" Zeit...

Das Theater an sich sieht (im Gegensatz zu vielen anderen (deutschen) Theatergebäuden) von außen ein wenig gewöhnungsbedürftig aus, was aber nicht unbedingt negativ gemeint ist. Es liegt direkt am Stadtpark und gegenüber von der berühmten Tonhalle, in welcher regelmäßig Konzerte (hauptsächlich klassischer Natur) gegeben werden. Obwohl es von außen betrachtet recht bombastisch wirkt, ist es innen aber relativ klein, aber - meiner Meinung nach - auch irgendwie gemütlich und niedlich.

Nun aber zum Stück an sich:

Regie / Inszenierung: Anja Horst
Musikalische Leitung: Ralph Hufenus
Bühnenbild: Marcel Glanzmann
Kostüme: Bernhard Duss
Choreographie: Marco Volta
Dramaturgie: Madeleine Herzog
Der Conférencier: Christian Venzke (kein Kommentar nötig, oder ?!)
Die Eltern: Juana von Jascheroff (spielte vor einiger Zeit in der Daily Soap "Marienhof" mit und ist auch eine bekannte Theaterschauspielerin)
Hans Rudolf Spühler
Die Kinder: Katja Tippelt (Berliner Schauspielerin)
Matthias Albold
Manuel Löwensberg (Schweizer Jungschauspieler)
Marcus Schäfer
Der Hund: Samuel Sommer
Klavier, Melodica, Akkordeon: Willi Haene
Kontrabass, Klavier: Ralph Hufenus
Schlagzeug, Percussion: Olaf Ryter (Jazzschule St. Gallen)
Saxophon, Klarinette: Daniel Sidler
sowie die Statisterie des Theaters St. Gallen

Es begann mit dem Einmarsch der Musiker (in kurzen Hosen, aber trotzdem sehr adrett gekleidet und mit strengem Seitenscheitel), die sich, bevor sie sich dem Publikum stellten, schnell noch zurecht machen und kämmen mussten - irgendwie halt typisch angelsächsischer Humor und somit passend zum Stück.

Als Christian auf der Bühne erschien, herrschte erst einmal Totenstille. Vielleicht, weil die Schweizer meist sowieso eher etwas zurückhaltend sind, vielleicht waren sie aber auch einfach nur bei seinem Anblick "geschockt", denn in dieser Rolle, nämlich der des Conférenciers, war er von Kopf bis Fuß in einem grellen Rot-Ton gekleidet. Hinzu kamen auch noch die hüftlange Perücke (selbstverständlich auch knallrot), unterschiedliche Augenfarben (im linken war eine braune Kontaktlinse), das auffällige Make-up und die endloslangen Fingernägel (was bei ihm aber ja eigentlich nichts Außergewöhnliches ist ;-)...). Zu diesem Zeitpunkt dachte ich schon so vor mich hin: Na, wenn man das Publikum schon hiermit schocken kann, wie soll es denn erst im weiteren Verlaufe des Stücks werden, denn es wurde ja so einiges angekündigt: "Eine mörderisch vergnügliche Bühnenshow für ein junges Publikum und Menschen, die Schauerliches zu genießen wissen."

Bei seinen ersten Erzählungen und Warnungen stolzierte er dann durch das Publikum und bezog es mit ein, was den einen mehr und den anderen anscheinend weniger gefiel. Da wir ziemlich in der Mitte der 5. Reihe saßen, kam er leider nicht zu uns durch, denn die meiste Zeit hielt er sich eher bei den Randplätzen oder bei den Zuschauern in der 1. Reihe auf...

Es folgten die grausamen Geschichten von Heinrich Hoffmann, die wohl so gut wie jeder kennt (falls dies nicht der Fall sein sollte: auf http://www.christianvenzke.de könnt Ihr die Texte nachlesen). Der Conférencier begleitete die Zuschauer durch (fast) alle Geschichten, indem er sie mit seinen meist lasziv-angehauchten Kommentaren untermalte und natürlich auch durch seine einmalige gesangliche Darbietung der einzelnen Geschichten.

Im Vordergrund stand die Geschichte der Familie um den Titelhelden, welche ja selbstverständlich nicht fehlen darf. Zunächst konzentrierte man sich hauptsächlich auf die Eltern, die anfangs nur "nackt" (richtig nackt waren sie nicht, sondern hatten einen hautfarbenen Schaumstoffanzug oder so etwas in der Art an) zu sehen waren. Die beiden schienen sehr glücklich verheiratet zu sein, mit Eigenheim und allem drum und dran. Zum perfekten Glück fehlte Ihnen nur noch ein Kind, welches sie sich schon seit Jahren wünschten. Aus diesem Grund ging es auf der Bühne dann auch heiß her, denn sie probierten immer und immer wieder, das lang ersehnte Baby zu zeugen. Doch als es dann tatsächlich geklappt hatte und es endlich da war (der "Struwwelpeter" kam im übrigen auf die Welt, indem er unter einer riesengroßen Decke hervor gekrochen kam), war die Enttäuschung riesengroß, denn es entsprach überhaupt nicht ihren Vorstellungen (umgekehrt war es übrigens genauso). Die Eltern verabscheuten und hassten ihr Kind, denn es war frech, hungrig, unselbstständig und hatte zudem auch noch lange Haare (Rastalocken, in etwa wie die Titelfigur im Musical "Mozart!") und Fingernägel, welche er sich auf keinen Fall abschneiden lassen wollte und so wurde der rebellische Schmutzfink schnell zum Außenseiter. Zwischendurch wurde die Geschichte der Familie Struwwelpeter immer wieder aufgegriffen und fortgeführt.

Aber es gab ja auch noch andere grausame Geschichten von Heinrich Hoffmann, über die der Conférencier zu berichten wusste, u.a. die vom Zappel-Philipp, der - da er einfach nicht still am Tisch sitzen wollte - vom Esstisch verfolgt und schließlich vom Besteck erstochen wurde. Das dazugehörige Lied geht einem - meiner Meinung nach - nicht so schnell aus dem Gedächtnis, ich sage nur: Zippel-Di-Zipp-Zappel-Philipp...

Dann war da noch der immer mäkelnde, anfangs kugelrunde und im Kühlschrank verweilende Suppenkaspar, der aus reinem Übermut fünf Tage lang das Essen seiner Suppe verweigerte und sich schließlich zum Skelett herunter hungerte.

Ein weiteres Kind, nämlich der böse Friederich, kam ums Leben, indem er vom Hund tot gebissen wurde, was ihm vielleicht aber auch ganz recht geschah, da er diesen und noch andere Tiere sowie das Gretchen zuvor ständig geschlagen und schrecklich misshandelt hatte.

Außerdem gab es da noch die Geschichte von Konrad (die "Schnipp-Schnipp-Ballade", auch ein totaler Ohrwurm), dem Daumenlutscher, der, sobald seine Mutter - die ihn oft ermahnte - aus dem Haus gegangen war, seinen Daumen wieder im Mund hatte, was zur Folge hatte, dass der Schneider vorbeikam und ihm mit seiner scharfen Schere die Daumen abschnitt, so dass der arme Konrad verblutete... Sehr witzig waren in dieser Szene die vielen im Bühnenbild auftauchenden Daumen.

Die "gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug" dürfte auch vielen bekannt sein. Hierbei spielte das neugierige Paulinchen verbotener Weise mit dem Feuer, da sie ungehorsam war und keineswegs hören wollte, obgleich die Katzen sie vorher gewarnt hatten, doch das Unglück geschah, sie zündete sich an und brannte lichterloh nieder.

Das einzige Lied, das Christian nicht singen durfte und bei dem er auch nicht auf der Bühne präsent war, ist das von den bösen Buben, jedoch gab es im Hintergrund eine Projektion von seinem sich ständig bewegenden und anscheinend das Geschehen auf der Bühne beobachtende linken Auge mit der braunen Kontaktlinse.

Der so genannte Hans-guck-in-die-Luft erhielt seinen Namen zu Recht. Er hielt seine Nase stets hoch und beobachtete gern alles, was in seinem Blickfeld (hoch am Himmel) war, z.B. die Schwalben und die Sonne. Das ganze ging solange, bis er eines Tages im Fluss landete und ertrank. Hierbei liefen die anderen Kinder torkelnd und abwesend wirkend mit einem riesigen Joint über die Bühne, während Christian sich auf dem Klavier räkelte und sang.

Bei der Geschichte vom kleinen, fliegenden Robert ist das Ende nicht ganz klar - auch er ist ein ungehorsames Kind und wollte ebenfalls nicht hören und schon gar nicht bei dem "schönen" Regenwetter zuhause bleiben. So wurde er kurzerhand vom Wind erfasst und flog mit seinem grünem Regenschirm davon. Wo er allerdings landete, steht in den Sternen...

Wer nicht hören will, muss sterben, das ist die Konsequenz, zu der sich Heinrich Hoffmann bei einigen Geschichten im "Struwwelpeter" nicht entschließen konnte und deshalb ließ er ihr "Unhappy End" offen.

Auch wenn die Aufführung wie ein makabrer und skurriler Alptraum mit (tief-) schwarzen und gemeinen Geschichten wirkte, hat es mir letztendlich trotzdem sehr gut gefallen. Teilweise erinnerte es mich auch an die "Rocky Horror Show", was wohl nicht nur an den bunten Kostümen und überdimensionalen Bühnenbildern lag.

Im Grunde ging es hierbei nicht nur um schwarzen, englischen Humor, sondern es war auch eine Satire auf Elternliebe, Erwachsenen-Rechthaberei und die inzwischen subtiler ausgeübte Pädagogik des Bestrafens. Gepredigt wurden Zucht und Ordnung sowie bürgerliche Tugenden wie Gehorsamkeit, Sauberkeit und Häuslichkeit und wehe, man pariert nicht. Überschreitet ein Kind die ihm gesetzten Grenzen, muss es bittere Konsequenzen als Strafe am eigenen Leib erfahren. Wie sagte der Conférencier noch so schön: "Der Weise weiß, wo sein Weg ist, der Narr geht weiter und weiter und weiter und geht unter..." - oder zumindest so ähnlich...

Es ist nur schade, dass die Vorstellung (es gibt im Übrigen auch keine Pause) bereits nach ca. 80 min. vorüber ist! Das Schweizer Publikum war zum Glück am Ende doch ziemlich begeistert und auch sehr humorvoll, hätte ich ja nicht gedacht. Es gab zwar keine richtigen Standing Ovations, aber minutenlangen und tosenden Applaus.

 
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